Ein gut gefüllter Großkastengreifer gerade sicher an Bord plaziert.

Seinen Platz zwischen all den Anderen finden

Eine zentrale Frage unserer Expedition ist, welche Arten leben im Untersuchungsgebiet und wie ist ihre Verbreitung in angrenzenden Meeresregionen sowie darüber hinaus. Wir hoffen gute alte Bekannte zu finden, die wir von früheren Expeditionen schon kennen, aber natürlich auch bisher unbekannte Arten. Meine Gruppe sind die Polychaeten, oder auch Vielborster oder Meeresborstenwürmer, die alle Lebensräume des Meeres besiedeln, aber am häufigsten assoziiert mit dem weichen Meeresboden (auf und im Sediment) zu finden sind. Beobachtet man sie als lebende Organismen, fallen ihre schönen Farben auf, insbesondere in wärmeren Meeren oder Korallenriffen, und sie erscheinen als fragile Wesen. Von anderen Arten werden Bilder präsentiert, die sie als furchteinflösende Räuber mit eindrucksvollen Kiefern zeigen. Ich bin mir fast sicher, dass fast jeder ihnen schon begegnet ist! Angler die im Meer auf die Jagd nach Fischen gehen, nutzen Polychaeten gern als Köder. Auch wenn man im Wattenmeer wandert oder die Flachwasserbereiche der Ostsee besucht hat, ist man ganz sicher auf ihre Spuren im Sand gestoßen.

Polychaeten sind ein sehr wichtiges Glied in der Nahrungskette im Meer. So dienen sie Fischen oder Watvögeln als Nahrung, aber auch vielen anderen Bewohnern die sich räuberisch ernähren. Für Polychaeten wird oft generell angenommen, dass sie sich leicht verbreiten, da viele Vertreter planktische Larven besitzen, die beispielsweise mit Meeresströmungen über große Distanzen transportiert werden könnten. Dies stimmt aber eigentlich nur für einige Spezialisten unter ihnen, die besonders langlebige Larven besitzen, die dann tatsächlich über Monate durch die Ozeane treiben und sich in dieser Lebensphase dort auch ernähren können oder Proviant in Form von Dotter besitzen. Polychaeten sind bekannt für ihre Vielzahl von Reproduktionsmöglichkeiten. Leider ist in dieser Hinsicht für Arten aus der Tiefsee besonders wenig bekannt, einfach weil es schwierig ist, die Tiere lebend zu sammeln und im Labor zu beobachten bzw. dort zu kultivieren. Aber die Fortpflanzung scheint ihnen auch dort sehr gut möglich zu sein, denn wir finden Polychaeten in all unseren Proben. Man kann sogar sagen, dass sie unter den im Meeresboden lebenden wirbellosen Tieren der Makrofauna (Tiere, die auf einem Sieb mit 1 mm Maschenweite liegen bleiben) die vielfältigste und häufigste Tiergruppe im Aleuten-Graben darstellen. Wir finden sie in Proben aus Schleppgeräten wie dem Agassiz-Trawl und dem Epibenthos-Schlitten und den verschiedenen Greifern (Großkastengreifer und Multi-Corer). Offensichtlich hat eine Vielzahl von Polychaeten-Arten ihren Platz hier inmitten der Makrozoobenthos-Gemeinschaft des Aleuten-Grabens gefunden.

 

Den Platz in der Gemeinschaft finden… das trifft nicht nur auf unsere Forschungsobjekte zu, sondern auch auf uns selbst hier auf dem Schiff.

Ich denke, dass wir Wissenschaftler hier die zeitweiligen Gäste sind. Für die Crew muss es sich doch anfühlen, als wäre nun erneut eine Horde von Eindringlingen in ihr Zuhause gekommen? Vielleicht irre ich mich, zumindest geben sie uns keinerlei Andeutungen in dieser Richtung. Vielmehr ist die Crew ausgesprochen nett und zuvorkommend den Wissenschaftlern gegenüber. Freundlich werden jederzeit Fragen beantwortet und Hilfestellung gegeben. Also vielleicht ist es für sie auch ganz spannend und amüsant uns dabei zuzuschauen, wie wir lernen uns zurechtzufinden?

Mein Eindruck ist, dass die Zeit der Ankunft hinter uns liegt. Es haben nun gewisse Routinen entwickelt. Fast alle haben sich an die Schiffsbewegungen gewöhnt und die rätselhaften Geräusche der Nacht stören unseren Schlaf weniger. Manche davon können wir nun sogar zuordnen. Die Tage der Seekrankheit sind eigentlich vorbei, aber vielleicht kommen sie zurück wenn das Wetter weniger ruhig als im Moment ist? Wir akzeptieren mittlerweile, dass wir mehr Schlaf als gewöhnlich brauchen, dass wir mehr und anders essen als zu Hause (das regelmäßig angebotene Essen ist einfach zu verführerisch und das Leben auf dem Schiff mit dem ständigen Ausgleichen der Wellenbewegung kostet wohl Energie 😊). Einige von uns gehen eher früh zum Essen, andere bevorzugen die spätere Zeitspanne. Einige treiben regelmäßig Sport, andere versuchen durch Abgehen der Decks in Bewegung zu bleiben, andere haben das Gefühl für körperliche Ertüchtigung keine Zeit zu haben oder nutzen ihre Energie anders. Beliebt sind auch bei vielen Gesellschaftsspiele, Darts und Tischtennis, besser vielleicht auch einfach nur Zusammensitzen und gemeinsam Spaß haben, Musikhören, Filme schauen. Manch einer bevorzugt aber eher die Ruhe und das Gespräch in kleinerer Runde, ein Buch lesen, einen ruhigen Platz an Deck finden und im Meer Wale entdecken oder Vögel beobachten. An die allgegenwärtigen Einschränkungen durch die COVID Maßnahmen, ob Arbeit oder Freizeit, müssen auch wir an Bord uns halten.
Ich denke, wir sind eine gute Mischung von Leuten verschiedenen Alters und mit verschiedenen Erfahrungen, die gern geteilt werden. So erleben wir diese Expedition gemeinsam, tauschen uns aus über unsere wissenschaftlichen Erfahrungen und lernen dazu, weil andere Leute andere Dinge wissen als jeder selbst.

Ein letzter Punkt noch in dem wir alle übereinstimmen: Der Tag fühlt sich an, als wäre er in der falschen Zeitzone! Es wird erst sehr spät hell, erst kurz vor 8:00 Uhr, also nach dem Frühstück. Aber der Tag ist schier endlos denn es ist hell bis fast Mitternacht und richtiges Dunkel erlebt man eigentlich erst zwischen 1:00 bis 2:00 Uhr morgens.

Sedimentoberfläche einer Probe, hier mit einer Foraminifera der Gruppe Xenophyophora  
Die Bearbeitung der Probe beginnt mit der Entfernung des überstehenden Wassers, jeder Tropfen geht durch ein Sieb um evtl. enthaltene Tiere nicht zu verlieren…
Vorsortierte Würmer bevor sie weiter im Labor identifiziert werden.
Polychaet der Gruppe Terebellida, Maßstab 1 mm.
Sieben am Siebtisch um die Tiere vom Sediment zu trennen.
Siebrückstand, hier ein Sieb voller Röhren, das ehemalige Zuhause ihrer Bewohner (Würmer, Krebse u.a.).
Sortierung und Identifikation im Labor am Mikroskop.
Planktischer Polychaet der Gattung Tomopteris.
Das gesamte Kastengreifer-Team.
Sonnenaufgang gegen 8:30 am Morgen, Start unserer Schicht heute.